Sollten Steuerbehörden bei der Verhängung proportionaler Geldbußen die abzugsfähige Mehrwertsteuer berücksichtigen? Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil (EuGH C-418/22, Cezam) über die Vereinbarkeit der in Belgien üblicherweise verhangenen proportionalen (prozentualen) Geldbußen mit den Grundsätzen des heutigen EU-Rechts entschieden.
Gegenstand, der dem EuGH vorliegenden Vorabentscheidungsfrage war, ob proportionale Geldbußen für zu wenig gezahlte Mehrwertsteuer festgesetzt werden können, ohne dass die Steuerbehörden die abzugsfähige Mehrwertsteuer berücksichtigen müssen. Diese Entscheidung wurde mit Spannung erwartet, da sie möglicherweise weitreichende Konsequenzen für die die derzeitige steuerrechtliche Praxis in Belgien hat.
Als Experten im Bereich internationales Steuerrecht sind wir bei Euregio Law & Tax auf solche rechtlichen Angelegenheiten und Fragestellungen spezialisiert. Im Folgenden geben wir einen Überblick über das Urteil des EuGH und dessen praktische Bedeutung für die mehrwertsteuerliche Praxis in Belgien und der ganzen Europäischen Union:
Sachverhalt
Der Fall betraf einen in Belgien steuerpflichtigen Unternehmer, der es über einen längeren Zeitraum versäumt hatte, regelmäßig Mehrwertsteuererklärungen in Belgien abzugeben. Ohne die abzugsfähige Mehrwertsteuer zu berücksichtigen, setzte die belgische Verwaltung Geldbußen fest, welche dem Betrag der nicht gezahlten Mehrwertsteuer entsprachen. Nach dem geltenden belgischen Mehrwertsteuergesetz wurden die Bußgelder auf 20 % des Umsatzes festgesetzt.
Anschließend hat der Steuerpflichtige diese Bußgelder unter Berufung auf die Grundprinzipien des EU-Rechts angefochten. Damit auch die abzugsfähige Mehrwertsteuer innerhalb des relevanten Zeitraums berücksichtigt wird, sollten die Sanktionen entsprechend nur auf den Nettobetrag der Steuer berechnet werden. Der Kläger stützte dieses Argument auf die durch den EuGH bereits ergangenen Urteile Salomie und Oltean (C-183/14 vom 09.07.2023) und EN.SA (C-712/17 vom 08.05.2019) und machte insbesondere geltend, dass die Erhebung von Geldbußen auf die abzugsfähige Mehrwertsteuer gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße.
Vorabentscheidungsfrage
Das für den Sachverhalt zuständige belgische Gericht ersuchte den Europäischen Gerichtshof (im Folgenden: “EuGH”) und bat dahingehend um Stellungnahme zu der Frage, ob das belgische System der verhältnismäßigen Geldbußen mit den Grundsätzen des EU-Rechts vereinbar ist. Wesentliches Kriterium für den EuGH war dabei, ob die geltenden EU-Vorschriften in Verbindung mit den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Neutralität ein System verbieten, bei dem die Geldbußen auf der Grundlage des Bruttobetrags der Mehrwertsteuer festgesetzt werden, ohne den Vorsteuerabzug zu berücksichtigen.
Entscheidung des EuGH
Der EuGH urteilte in seiner Entscheidung, dass die Sanktionen, in Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, nicht über das hinausgehen sollten, was erforderlich ist, um die Ziele der Steuererhebung und der Betrugsbekämpfung zu erreichen.
Bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit im Einzelfall ist laut EuGH die Art und Schwere des Verstoßes sowie das Verfahren zur Berechnung des Strafmaßes zu berücksichtigen.
Im vorliegenden Fall stellte der EuGH fest, dass die Zuwiderhandlungen, für die der Kläger bestraft wurde, sowohl beharrlich als auch vorsätzlich waren. Schließlich hatte es der Kläger trotz zahlreicher Versuche der belgischen Verwaltung über einen längeren Zeitraum hinweg immer wieder versäumt, die geforderte Mehrwertsteuer auszuweisen oder abzuführen.
Das Argument des Klägers, sein Sachverhalt sei mit vorangegangenen Entscheidungen des EuGH vergleichbar, wies der EuGH ab, indem er feststellte, dass sich die genauen Fakten und Verstöße in diesem Fall von denen in früheren Urteilen unterscheiden. Folglich würden auch nicht dieselben Grundsätze und Regeln gelten.
Ferner führte der EuGH zum Grundsatz der steuerlichen Neutralität aus, dass dieser Grundsatz den Vorsteuerabzug gebietet, sofern die materiellen Voraussetzungen erfüllt sind. Dies ist unabhängig davon der Fall, ob die formellen Voraussetzungen erfüllt sind oder nicht. Dem EuGH fehlten zur Beurteilung des Grundsatzes jedoch weitergehende Informationen dazu, wie sich die nationalen Rechtsvorschriften oder die Sanktionen in diesem Fall auf die Möglichkeit des Vorsteuerabzugs auswirken.
Zusammenfassend findet der Gerichtshof keine Anhaltspunkte dafür, dass sich der Steuerpflichtige nicht auf dieses Recht berufen könnte, und kommt zu dem Ergebnis, dass Artikel 273 der Richtlinie 2006/112 und die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität einer solchen nationalen Regelung nicht entgegenstehen. Dies hat zur Folge, dass die Nichteinhaltung der Pflicht zur Anmeldung und Abführung der Mehrwertsteuer mit einer pauschalen Geldbuße in Höhe von 20 % des Mehrwertsteuerbetrags, vor Abzug der abzugsfähigen Mehrwertsteuer, sanktioniert werden darf.
Trotz des Urteils des EuGH muss nun das zuständige belgische Gericht die Angemessenheit der verhängten Strafe bestätigen.
Unsere Einschätzung
In Ermangelung einer Harmonisierung des EU-Rechts in Bezug auf die Sanktionspraxis haben die Mitgliedstaaten der EU die Befugnis, Geldbußen zu verhängen.
Jedoch müssen die Mitgliedstaaten ihre Befugnisse dennoch im Einklang mit dem EU-Recht ausüben. Dies schränkt die bestehende Flexibilität der Mitgliedstaaten ein, zeigt jedoch auch den weiterhin bestehenden Spielraum der Mitgliedsstaaten auf.
Die Pflicht zur Abführung der Mehrwertsteuer und das Recht auf Vorsteuerabzug werden von den Steuerbehörden in der Regel unterschiedlich gehandhabt. Der Vorsteuerabzug wird als ein Recht betrachtet, welches nur ausgeübt werden kann, wenn die entsprechenden Umstände erfüllt sind, während die Abführung als eine Pflicht angesehen wird. Auf der Grundlage der nun ergangenen CEZAM-Entscheidung kann festgehalten werden, dass verhältnismäßige Sanktionen in Fällen von zu wenig gezahlter Mehrwertsteuer verhängt werden können, ohne die abzugsfähige Mehrwertsteuer zu berücksichtigen.
Dabei gilt es stets zu bedenken, dass der EuGH in seinem Urteil die Annahme bestätigt hat, dass Geldbußen nicht über das Maß hinausgehen dürfen, welches in Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich ist, um eine ordnungsgemäße Erhebung der Mehrwertsteuer zu gewährleisten. Die Schwere des Verstoßes sollte bei der Entscheidung über die Strafe berücksichtigt werden.
Es stellt sich nun weiterhin die Frage, ob die in Belgien übliche Verhängung von Sanktionen in Höhe von 20 % gerechtfertigt ist, insbesondere wenn keine Gefahr eines Verlustes von Mehrwertsteuereinnahmen besteht (wie im Falle der Verlagerung der Steuerschuldnerschaft).
Dieser Fall zeigt erneut, dass die Strafen für die Nichteinhaltung der MwSt.-Vorschriften schwerwiegend sein können, insbesondere wenn sie als Prozentsatz des Umsatzes ausgedrückt werden. Jeder Unternehmensumsatz, obgleich Kauf oder Verkauf, birgt ein potentielles Risiko im Zusammenhang mit der Mehrwertsteuer. Bei proportionalen Strafen (d. h., die sich als Prozentsatz des Umsatzes oder der Mehrwertsteuerschuld berechnen), können sich die Beträge schnell summieren und erhebliche wirtschaftliche Konsequenzen für das Unternehmen haben.
Kontakt
Haben Sie weitere Fragen zum belgischen und internationalen Steuerrecht? Unser belgischer Fachanwalt für Steuerrecht Thomas Hermie hat sich auf die Beratung deutscher Unternehmen in Belgien spezialisiert. Nehmen Sie gern Kontakt mit RA Hermie auf via E-Mail t.hermie@euregio.law oder per Telefon +32 499 24 07 81.